Geschrieben von: Antonia Fuchs
am 24. February 2016
Unwahrheiten rund ums Stillen halten sich hartnäckig. Und wenn eine Zeitung so unhinterfragt Muttermilch-Mythen verbreitet wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am vergangenen Wochenende, wundert einen die Verunsicherung unter Müttern definitiv nicht mehr. Ein Kommentar zum Artikel „Muttermilch ist furchtbar out“.
Hier die heiklen Behauptungen des FAZ-Artikels, erschienen am 20.2.2106:
1. „Muttermilch ist furchtbar out“
Oberflächliche Überschrift für ein sehr sensibles Thema.
Das Problem: Die Autorin Martina Lenzen-Schulte schert in ihrer Kritik an niedrigen Stillraten arme und reiche Länder über einen Kamm. Wer würde bestreiten, dass Muttermilch ein Segen ist in Ländern mit schlechter Versorgung, schlechter Wasserqualität? Dass sie dort lebensrettend sein kann? Den tragischen Zuständen in Dritte-Welt-Ländern wird der plumpe Satz oben wohl kaum gerecht.
Und spiegelt er die Situation in Deutschland wider?
2. „In armen wie in reichen Länder stillen nur noch wenige Frauen. Auch weil Kunstmilch-Hersteller immer aggressiver werben.“
Fakt ist: Laut Nationaler Stillkommission stillen in Deutschland nach der Geburt rund 90 Prozent der Mütter, Stillen ist damit wohl kaum „out“.
Fakt ist: Produzenten von Milchpulver dürfen per Gesetz nicht aggressiv werben. Schon einmal bemerkt, dass die Milchpulverpackungen wenig ansprechend aussehen? Keine glückliche Mama abgebildet, die ihr Baby entspannt füttert? Die Firmen dürfen das Fläschchengeben nicht durch Formulierungen und Bilder idealisieren.
3. Hierzulande werden „rund zehn Prozent der Kinder nur im ersten Lebenshalbjahr noch ausschließlich gestillt“.
Das klingt, als wäre es verantwortungslos. Fakt ist: Für Beikost nach schon vier Monaten spricht das Ergebnis etwa einer britischen Studie aus dem Jahr 2011, derzufolge so das Risiko von Lebensmittelallergien sinkt.
Was Lenzen-Schulte in ihrem Artikel auch nicht erwähnt: Nach sechs Monaten stillt immerhin noch die Hälfte der Mütter, wenn auch nicht mehr ausschließlich.
4. Stillen verringere „bei Kindern in ärmeren Ländern das Risiko, an lebensbedrohlichen Durchfällen zu erkranken um die Hälfte“.
In armen Ländern mit schlechter Wasserqualität liegt das auf der Hand.
Eindeutig nachgewiesen ist aber tatsächlich – bedingt durch die spezielle Zusammensetzung der Muttermilch (antimikrobielle Proteine etc.) – dass gestillte Babys ein geringeres Risiko für eine Magen-Darm-Infektion haben. Nach Wolfs Analyse der Studienlage gehört dies nicht zu den unwahren Muttermilch-Mythen, ist aber der für das Kind einzige nachweisliche medizinische Nutzen vom Stillen.
5. Säuglinge, die Muttermilch erhielten, erleiden seltener Mittelohrinfektionen?
Nach Joan B. Wolfs ist dies nicht erwiesen.
6. In den Industrienationen verhindere die Ernährung mit Muttermilch außerdem das Risiko, am plötzlichen Kindstod zu sterben.
Nicht erwiesen.
7. „Die Vorteile der Muttermilch halten zudem lange vor und verringern auch im späteren Leben das Risiko chronischer Erkrankungen wie Allergien, Hautekzeme, Asthma, Fettleibigkeit und Diabetes.“
Das ist so wenig erwiesen, dass nicht einmal die Nationale Stillkommission es festhält. Dort bestätigt man lediglich: Späteres Übergewicht und Diabetes mellitus Typ 2 träten durch ausschließliches Stillen „möglicherweise“ seltener auf – eindeutig sei dies nicht.
Asthma: Darauf gibt es zwar Hinweise, doch existieren auch Studien, die zu dem gegenteiligen Ergebnis kommen: dass das Asthma-Risiko durchs Stillen steige.
Auch, dass Muttermilch vor Allergien schütze, ist nicht erwiesen, sondern wird durch Untersuchungen sogar widerlegt. Sogar in der Studie, die Lenzen-Schulte in ihrem FAZ-Artikel zitiert, heißt es wörtlich: „Wir fanden keine Zusammenhänge mit allergischen Leiden wie Asthma oder mit Blutdruck oder Cholesterin, und wir bemerkten einen Anstieg von Karies bei längerer Stilldauer.“
8. „Studien, die dem Stillen eine Steigerung der Intelligenz attestieren, sind inzwischen so zahlreich und verlässlich, dass sie niemand mehr wirklich anzweifelt.“
Wie bitte?! Längst hat sich zum einen die Anfechtbarkeit dieser Studien rumgesprochen. Fakt ist, dass eine Frau eher stillt, je höher ihr Bildungsgrad ist. Es spielen also weitaus mehr Faktoren mit als nur die Muttermilch, wie man längst weiß. Zum anderen wurden derartige Ergebnisse durch weitere Studien widerlegt.
Methodisch einwandfrei gingen die Wissenschaftler etwa bei der Ohio State University von 2014 vor: Beobachtet wurden Familien, in denen Mama mindestens ein Kind stillte und mindestens ein anderes Kind mit der Flasche fütterte. Das Ergebnis: Flaschenkinder unterschieden sich Jahre später in physischer, emotionaler und intellektueller Entwicklung nicht signifikant von ihren gestillten Geschwistern.
Bleibt nur eine Frage: Was soll das Ganze?
Liegt solchen letztlich verantwortungslosen Artikeln voller Muttermilch-Mythen nur ungründliche Recherche zugrunde? Die Sorge der Autorin um Menschen in armen Ländern in allen Ehren. Doch Flaschenkindern in Deutschland geht es gut.
Eine Mutter, die nicht stillt, hat ihre Gründe. Und eine Mutter, die stillt, sollte es von Herzen wollen. Nicht, weil ihr wieder und wieder Lügen aufgetischt werden.
Weiterlesen: Wem nützt der Stillhype?
Weiterlesen: 7 Dinge, die wir Mütter von Flaschenkindern nicht mehr sagen sollten
Hallo,
vielen Dank für eure Seite! Ich finde es gut, dass auch mal die andere Seite der Medaille beleuchtet wird. 😉 Was mich zu, Thema “Stillen und Intelligenz” interessiert, wäre die Studie aus Brasilien. Sie ging 2015 durch die Presse und gilt als sehr aussagekräftig. Was sagt ihr dazu?
Liebe Grüße
Christin
Liebe Christin,
danke für dein positives Feedback, sowas freut uns immer sehr! 🙂
Und du hast recht: Solche Studien genießen immer viel mediale Aufmerksamkeit. Viel mehr als jene, die auf das Gegenteil hinauslaufen – und die gibt es genauso.
Wissenschaftler, die die Relevanz solcher Ergebnisse wie „gestillte Babys sind später schlauer und reicher“ anzweifeln, haben ein gutes Argument: Wirklich aussagekräftig sind solche Untersuchungen nur, wenn gestillte und nicht gestillte Geschwisterkinder verglichen werden. Und das war in der Brasilien-Studie nicht der Fall. Die Vermutung drängt sich auf, dass mit der Entscheidung zu stillen auch ein bestimmtes Verhalten als Eltern einhergeht, etwa, dass man dem Kind später auch viel vorliest etc.
Eine Studie hat vor zwei Jahren gezeigt, dass nur drei Dinge nachweislich die Intelligenz im Kindesalter fördern: Omega-3-Fettsäuren während der Schwangerschaft und in den ersten Jahren, Kindergartenbesuch und Vorlesen besonders unter vier Jahren. Stillen war nicht dabei.
Wir hoffen, diese Antwort hilf dir weiter!
Herzliche Grüße,
Antonia