Muttermilch ist das Beste für das Kind. Diesen Slogan kennen Mütter hierzulande inzwischen auswendig. Doch müssen Mütter, die nicht stillen, sondern die Flasche geben, sich aufgrund ihrer Entscheidung wirklich Vorwürfe machen? Wir haben ein Interview mit dem Schweizer Wissenschaftlicher Prof. Dr. Thierry Hennet geführt über Muttermilch und ihre Notwendigkeit.
Prof. Dr. sc. nat. Thierry Hennet vom Physiologischen Institut der Universität Zürich hat gemeinsam mit seinem Kollegen, Herrn Dr. Lubor Borsig, Muttermilch erforscht. In einem ausführlichen Artikel für das wissenschaftliche Fachmagazin “Trends in Biochemical Science” haben sie die neuesten Forschungsergebnisse rund um das naturgegebene Getränk vorgestellt und näher erläutert.
Wie lange braucht Baby Muttermilch-Versorgung?
Doch eine Frage, die Hennet sich stellt, lautet auch: “Wie lange braucht ein Baby diese Versorgung wirklich?” Wir haben mit dem Schweizer Wissenschaftler im Interview darüber gesprochen, wie unentbehrlich Muttermilch wirklich ist, wozu sie nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen fähig ist und weshalb trotzdem keine Mutter dazu geworden werden darf, zu stillen.
Nuckelchen.de: Seit Jahren versucht man, Muttermilch genau zu entschlüsseln. Wie schwierig ist es, herauszufinden, wozu Muttermilch in der Lage ist?
Prof. Dr. Thierry Hennet: Die Zusammensetzung der Muttermilch ist extrem vielschichtig – sie besteht aus Tausenden von Molekülen – und dynamisch – denn diese Zusammensetzung wechselt während der Laktation. Die meisten Zutaten erfüllen mehrere Funktionen in der Ernährung und dem Schutz des Säuglings. Die strukturelle Komplexität der Muttermilch erklärt, wieso wir eigentlich noch viel über die funktionelle Bedeutung der Mutter zu lernen haben.
Welche Ergebnisse Ihrer Studie waren der Forschung rund um Muttermilch bislang nicht bekannt?
Hennet: Unser Übersichtsartikel in der Zeitschrift “Trends in Biochemical Sciences” fasst den allgemeinen Stand der Forschungserkenntnisse über die Muttermilch zusammen, nicht nur unsere Forschungsergebnisse. Unsere Arbeit der vergangenen Jahre hat gezeigt, wie spezifische Milch-Oligosaccharide* der Muttermilch, also die komplexen Zuckermoleküle der Milch, die Besiedlung des Darms durch Bakterien beeinflussen. Die präbiotische Rolle der Milch-Oligosaccharide war schon lange bekannt, aber die Wirkungen der einzelnen Oligosaccharide sind weitgehend noch unbekannt. Es gibt zirka 200 verschiedene Oligosaccharide in der menschlichen Muttermilch.
Muttermilch ist also in vielen Bereichen eine Hilfe für die Gesundheit und Entwicklung nicht nur des Babys, sondern auch der stillenden Mutter. So gut sie ist – birgt sie auch “Nachteile”?
Hennet: Die Muttermilch ist das Produkt von Millionen von Jahren der Evolution und ist die beste Nahrungsquelle für das Baby. Die Muttermilch bringt an sich keine Nachteile mit sich, aber das Stillen selbst ist selbstverständlich eine logistische Herausforderung für Mütter.
Welche vermeintlichen Fakten über Muttermilch konnten Sie aufgrund Ihrer Forschungen mittlerweile ausräumen?
Hennet: Unsere eigene Forschung hat bisher keinen vermeintlichen Fakt ausgeräumt. Bei Kuhmilch wird zum Beispiel behauptet, dass Wachstumshormone die in der Milch vorkommen, das Risiko für Darmkrebst erhöhen. Dabei handelt es sich definitiv um eine “Urban Legend”.
Stichwort plötzlicher Kindstod: Sie haben herausgefunden, dass Stillen die Säuglingssterblichkeit reduzieren kann. Was genau sorgt hier für die Reduzierung?
Hennet: Bei der Reduzierung der Kindersterblichkeit geht es nicht wirklich um den plötzlichen Kindstod, das sogenannte “Sudden infant death syndrome”, sondern um Erkrankungen wie die nekrotisierende Enterokolitis – eine Komplikation, die insbesondere bei Frühgeborenen vorkommen kann. Die orale Nahrungsergänzung von Neugeborenen mit Muttermilch trägt zur Besiedelung des Darms durch positiv-wirkende Bakterien wie Bifidobakteria und Lactobacilli, also Milchsäurenbakterien, und reduziert das Auftreten von entzündlichen Reaktionen wie die nekrotisierende Enterokolitis.
In einigen Bereichen der Forschung schneidet Muttermilch besser ab als Industriemilch. Wie groß sind die Unterschiede hinsichtlich Entwicklung der Intelligenz, der Gesundheit und anderen Dingen dabei wirklich?
Hennet: Die langfristigen Auswirkungen der Muttermilch sind extrem schwierig zu messen, da viele Faktoren wie zum Beispiel Ernährung, Umfeld und Genetik selbstverständlich auch zur Entwicklung eines Kindes beitragen. Epidemiologische Studien sind daher extrem schwierig zu interpretieren. Die berichteten Korrelationen zwischen Stillen und Intelligenz sind zum Beispiel schwach und nicht glaubwürdig.
Die WHO sowie die La Leche Liga empfehlen sechs bis zwölf Monate Stillen. Laut Ihren Ergebnissen sind die mütterlichen Antikörper aber hauptsächlich im ersten Lebensmonat des Babys aktiv und schützen. Wann kann eine Mutter also prinzipiell und rein wissenschaftlich begründet zufüttern, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen?
Hennet: Die Schutzfaktoren der Muttermilch bestehen nicht nur aus Antikörpern. Die Ernährung von Babys mit Muttermilch bietet auch antimikrobielle Proteine, immun-aktive Hormone und Oligosaccharide. Diese Schutzfaktoren kommen tatsächlich in der frühen Muttermilch (bis maximal zum zweiten Monat) in höheren Mengen als in der reifen Muttermilch vor. Die Frage, wie lange das Baby auf den Schutz der Muttermilch wirklich angewiesen ist, hängt von vielen Parametern ab. In dieser Hinsicht sind die Empfehlungen der WHO vollkommen angemessen für Länder mit unzureichenden Trinkwasserqualität und hohem Infektionsdruck. Es ist aber schwierig, eine allgemein gültige Dauer für das Stillen zu empfehlen, da die gesundheitlichen Umstände regional verschieden sind.
An welchen Punkten oder Fakten sollte man die Entscheidung für Muttermilch oder Formula festmachen?
Hennet: Die Entscheidung muss persönlich und ohne externen Druck geschehen. Die Punkte, die diese Entscheidung beeinflussen, sind so vielfältig, so verschieden, dass es unmöglich ist, sie auf rationaler Art gegenüber zu stellen.
Vielen Dank.
* Nach Angaben von Jennewein Biotechnologie sind neben dem Milchzucker Laktose, der als Energiequelle dient, 7 bis 25 Gramm komplexe Zuckermoleküle – sogenannte Oligosaccharide – pro Liter menschlicher Muttermilch enthalten.